Urteilen ist eine Zier, weiter kommt man ohne ihr.

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Über Twitter verkündete die liebe Mama-on-the-rocks den Startschuss einer neuen Blogparade „Live and let die? Raus aus der Mommy-Wars-Falle“. Darin geht es um den Umgang mit den ewigen besserwisserischen Ratschlägen oder auch nicht so nett gemeinten Urteilen rund um das Thema Kind. Sie hat dazu bereits viel Feedback erhalten, nachzulesen ist das alles hier. Ein Beitrag wies auf einen aus meiner Sicht sehr interessanten Aspekt hin: „Mommy Wars: Wie Mütter sich bekriegen“. Die Bloggerin „mamaslifestyle“ schrieb darin darüber, warum sie sich angegriffen fühlt und selbst verurteilt. Es fällt ja bei der Klage über die vielen Klugschieter und selbsternannten Supermamas leicht unter den Tisch, dass jene, die „Opfer“ solcher Attacken werden, durchaus auch „Täter“ sind. Das muss uns nicht erschrecken oder gar schockieren, es scheint mir völlig normal zu sein. Denn jeder tut das. Menschen urteilen. Ständig. Ohne es vielleicht bewusst zu bemerken. Es wird auch nicht immer ausgesprochen. Ein paar Beispiele gefällig?

  • Im Auto fahren. An der Ampel anhalten. Die Fußgänger überqueren die Straße, und wir scannen:
    Iiih, weiße Socken in Sandalen. Hui, cooler Hut. Boah, ist der Typ fett. Holla, hat die lange Beine.
    Das läuft in Sekunden im Gehirn ab, ein paar Sekunden später haben wir das unter Umständen schon vergessen.
  • Im Fußballstadion. Völlig egal, wer spielt. Und schon geht’s los:
    Gib ab, schieß, orrr, den hätte doch meine Oma reingemacht. Was bist Du denn für ein Blinder? Der Trainer hat doch keine Ahnung, den aufzustellen.
    Wahrscheinlich alles gar nicht so gemeint, aber: Wir haben geurteilt.
  • Auf dem Spielplatz. Eigenes Kind spielt in der Sandkiste. Viele andere Kinder samt Eltern sind auch da. Und wir scannen:
    Wie niedlich das Kind angezogen ist. Wieso hat das Kind keine Socken an? Was macht die Mutter aufm Spielplatz, wenn sie doch nur auf ihr Smartphone starrt? Oh, da ist sogar ein Papa dabei! Wieso trampeln da Eltern auf der Rutsche rum? Wieso hat das Kind noch einen Schnuller? Ach, Dein Kind hat noch ne Windel? Meins war schon mit 1 Jahr trocken.
    Sekundenschnell. Wahrscheinlich selten laut ausgesprochen, in der Regel auch schnell wieder vergessen, aber: Es passiert.

Diese wenigen Beispiele zeigen, wie normal dieses Urteilen eigentlich ist. Warum machen wir das? Über diese Frage haben sich ganz sicher schon viele den Kopf zerbrochen; was ich mit einer Schnellrecherche so fand, überzeugte mich an Erklärungen jedoch nicht. Es scheint etwas dran zu sein an der Theorie, dass wir gewisse Werte / gewisse Regeln / gewisse Grenzen brauchen, um uns in der Welt zurecht zu finden. Wir brauchen ein System, um die vielen Eindrücke verarbeiten und einordnen zu können. Vielleicht ist das sogar eine Schutzfunktion des Gehirns. Einig sind sich viele: Wir Menschen tun es aus verschiedenen Gründen. Und: In der Regel sagen diese Urteile, die wir unbewusst oder bewusst fällen, mehr über uns selbst als über den anderen Menschen. Diese schnellen (nicht immer ausgesprochenen Urteile) sagen etwas über …

  • … das eigene Selbstwertgefühl. Vielleicht sind wir uns in manchen Fragen selbst unsicher und bestätigen uns indirekt selbst, indem wir sagen, das andere ist falsch. Damit ist ja klar, dass die eigene Art und Weise, zu denken oder etwas zu tun, richtig ist.
  • … die eigene Persönlichkeitsstruktur. Es gibt Menschen, die das Gefühl brauchen, anderen mal richtig Bescheid zu tun. Es geht ihnen danach besser. Sie fühlen sich überlegen und leben das darüber aus, indem sie anderen sagen, was sie alles in ihren Augen falsch machen. Wer so handelt, blendet eigene Unzulänglichkeiten komplett aus.
  • … einmal gemachte (schlechte) Erfahrungen, die uns misstrauisch gemacht oder auch verletzt haben.
  • … das Hadern mit dem eigenen Schicksal. Fast jeder Mann hat als Kind schon mal Fußball gespielt, was ihn natürlich sofort zum absoluten Fußballkenner macht. Eigene Unzulänglichkeiten, vielleicht ein Scheitern an Leistungsgrenzen o.ä. lassen diese Menschen vielleicht dann zu den pöbelnden Fans werden, die alles besser wissen.
  • … verpasste Gelegenheiten. Vielleicht würde man im tiefsten Inneren auch gerne so leben wie jener, den man da be- oder verurteilt, und traut sich das nur nicht. Neid spielt also eine Rolle.
  • … die eigene Wahrnehmung der Realität, die aber nicht unbedingt identisch mit der Wirklichkeit sein muss. Nicht alles, was wir für wahr halten, ist es auch.

Also: Wessen Problem ist es nun, dass ständig geurteilt wird? Genau. Ganz sicher nicht das des Be- oder Verurteilten.

Beobachten statt zu urteilen

Was hat das alles mit dem „Mommy war“ zu tun? Aus verschiedenen Gründen sind wir Mütter und Väter ständig dabei, uns untereinander zu vergleichen. Weil wir perfekt sein wollen. Weil wir glauben, irgendwelchen (ja, welchen eigentlich?) Erwartungen genügen zu müssen. Weil wir uns vorgenommen haben, immer das Beste fürs Kind zu tun. Weil wir unseren Eltern zeigen wollen, dass wir es besser können als sie. Weil wir alle sich heute bietenden Möglichkeiten wahrnehmen wollen. Weil wir uns später nicht nachsagen lassen wollen, wir hätten nicht alles versucht. Weil wir nicht als Versager stehen wollen.

Doch drehen wir das doch mal um: Was heißt denn eigentlich Perfektion? Wer legt fest, was perfekt ist? Wer formuliert hier mit welchem Recht irgendwelche Erwartungen? Und wer legt fest, welche die richtigen Antworten sind? Was ist denn das „Beste für das Kind“, wer legt das mit welchem Recht fest? Wieso müssen wir mit unserem Elterndasein irgendwem irgendetwas beweisen? Wer legt fest, wann einer versagt und wann nicht? *

Ein bisschen liegt das auch an uns selbst. Wenn wir das Weltbild des Pöbelnden nicht zu unserem eigenen machen, kommen wir erst gar nicht in diesen immer wieder beklagten Rechtfertigungsdruck. Wenn wir erkennen, dass da jemand eine Aussage über sich macht, fällt es leicht, sich nicht attackiert zu fühlen.

Ich habe daher für mich entschieden, in den Momenten, da mich quasi ein Urteil „anfliegt“, in den „Beobachtungsmodus“ zu wechseln. Es ist erstaunlich, wie uninteressant die Sache sekundenschnell wird. Mir fielen in diesem Sommer überhaupt keine weißen Socken in Sandalen mehr auf. Ich sehe die auf den Spielgeräten rumturnenden Eltern kaum noch. Und was andere Kinder / Erwachsene anhaben, bemerke ich eigentlich nur noch dann, wenn es mir eine Idee vermittelt, auf die ich selbst gar nicht gekommen wäre. Eine Anregung sozusagen. Dafür gehen wir doch auch mit offenen Augen durch die Welt. Um uns inspirieren zu lassen.

Abgesehen davon bin ich gar nicht böse, wenn man mich auf bestimmte Dinge aufmerksam macht, die bei mir beobachtet (!) wurden, wobei es hier sicher auch auf das WIE ankommt: Ich muss nicht das Rad neu erfinden, und ich muss auch nicht alles wiederholen, womit andere schon Erfahrungen gemacht haben und ich davon profitieren könnte.

Mein Weg heißt also: Achtsam sein gegenüber sich selbst. Andere beobachten, statt zu urteilen. Von guten Absichten ausgehen, wenn man angesprochen wird. Vielleicht ist diese Art, an die Dinge heranzugehen oder sie wahrzunehmen, die Erklärung dafür, dass mir im ersten Moment, als ich die Blogparade anfing zu lesen, partout keine Situation eingefallen ist, in der ich „Opfer“ war. Weil ich es auch einfach nicht sein will.

 

* Ich gehe einfach mal davon aus, dass wir körperliche und geistige Unversehrtheit als Primat aller Entscheidungen sehen. Körperliche oder seelische Gewalt gegenüber Menschen sind keine Frage der persönlichen Entscheidung. Ich setze darüber hinaus voraus, dass wir nicht darüber reden, Gesetze oder verfassungsmäßig geschützte Rechte zu brechen.

 

 

 

7 Kommentare Gib deinen ab

  1. MamaOTR sagt:

    Ich finde es ganz spannend, wie Du die Mommy Wars in einen grösseren Kontext setzt. Wir urteilen immer, überall. Deshalb gefällt mir der von Dir vorgeschlagene Beobachtungsmodus (für mich ist das: in die Metaebene gehen) auch sehr gut. Sich einfach mal zurücknehmen, durchatmen und realisieren, was der „Angriff“ eigentlich wirklich ist. Mehr Ommmm sozusagen. Eine tolle Einstellung!

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  2. Sam sagt:

    Toller Beitrag!
    Du lieferst hier informatives Hintergrundwissen zu unserer Blogparade<3
    Mich haben Deine Beispiele ziemlich nachdenklich gemacht und wenn man es mal aus der Sicht des Beobachtens sieht, ja wirklich, das könnte eine Lösung sein…
    Wir urteilen alle, einschließlich meinereiner, aber ich halte mich nicht für so wichtig, dass das was ich denke, das einzig Richtige ist und ich es meinem Gegenüber um die Ohren klatschen muss. Deshalb habe ich im Umkehrschluss für mich entschieden, die selbsternannten Experten und ihre Weisheiten, als nicht wichtig für unser Leben einzustufen und sie zu ignorieren. Das klappt auch;-) (Und mit Deiner Recherche ab jetzt bestimmt noch besser!)
    Vielen Dank!

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  3. Hallo!

    Danke für Deinen Text.

    Ich habe das Beobachten ohne zu Urteilen in der Ausbildung zur Erzieherin gelernt. Das ist mein Handwerkszeug, sozusagen. Und im Alltag hilft es auch.

    Guter Hinweis von Dir!

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  4. mrscgn sagt:

    Dankeschön für Euer Feedback.

    Ich gebe es zu, dass ich diese Haltung nicht immer hatte. Ich habe genauso geurteilt wie die vielen Eltern, von denen in den anderen Blogbeiträgen die Rede ist. Insofern habe ich schon auch Verständnis dafür, einfach, weil es ein normal-menschliches Verhalten ist. Das sind ja Verhaltensmuster, die gelernt sind. Es dauert ein bisschen, bis man merkt, dass da was in die falsche (sprich: sich nicht gut anfühlende) Richtung läuft, und dass man gegensteuern sollte.

    Ausnehmen möchte ich jedoch, quasi als Nachtrag, fachliche Dinge: Wenn ein Fliesenleger die Arbeit eines anderen Fliesenlegers beurteilt, finde ich das absolut in Ordnung. Da geht es um klar definierte Qualitätskriterien, an denen sich die Arbeit messen lässt. Auch in meinem Beruf gibt es ein paar handwerkliche Fertigkeiten, und ich nehme mir gelegentlich schon heraus, auf das Fehlen dieser bei anderen professionell in dem Metier Arbeitenden hinzuweisen (= Urteil).
    🙂

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  5. Du hast absolut recht mit deinem Text. Sicherlich liesse es sich viel ruhiger leben und du bist das beste Beispiel dafür. Leider fällt es mir schwer in jeder Situation so zu reagieren, auch sei es als „Täter“ oder als „Opfer“.
    Vergleiche können sicherlich auch etwas positives beherbergen. So kann man sich inspirieren lassen, anstatt zu denken „Warum kann mein Kind das noch nicht“ oder „Warum macht die Mutter das so?!“.
    Wie Mama on the rocks sagte, mehr Ommmm 🙂
    Vielen dank für deinen Beitrag zur Blogparade 🙂

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    1. mrscgn sagt:

      Danke!
      Vergleiche sind in der Tat nicht per se doof. Ich zum Beispiel wurde von einer anderen Mutti hier ermutigt, mit meinem K2, als sie noch sehr klein war, zur Krankengymnastik zu gehen, um sie zu unterstützen. Und schwupps erzählte sie, dass sie mit ihrem Kind da auch ist. Manchmal öffnen sich da ja auch „Türen“. 🙂

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  6. Yummy Mummy sagt:

    Ein ganz toller Text, der das Thema mal in einem anderen Kontext beleuchtet. Spannend auch deine Lösungsansätze. Auch wenn ich selbst zugeben muss, das Urteilen auch auf diese Art nicht ganz abstellen zu können. Nicht, wenn es weiße Socken in Sandalen betrifft, ich gehöre glücklicherweise zu den Menschen, denen solche Dinge am Allerwertesten vorbeigehen ;-). Auch habe ich nicht das Bedürfnis, anderen Menschen meine Ansicht auf die Nase zu binden. Aber so für mich alleine, im stillen Kämmerlein, habe ich dann doch eine Meinung zu den Dingen, die um mich herum geschehen. Aber ich arbeite daran ;-). Wie du es bereits so treffend beschreibst, Beobachten statt Urteilen und Achtsamkeit, das scheinen tatsächlich zwei ganz große Schlüssel zu sein. Auch wenn wahrscheinlich weder ich, noch die Gesellschaft sich je ganz freimachen werden von Urteilen. (Dennoch ein kleiner Preis für das Privileg, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der man dazu erzogen wird, alles kritisch zu hinterfragen, pro und contra abzuwägen, sich eine fundierte Meinung zu bilden und diese auch frei äußern zu dürfen.)

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