Fußball ist eine Sportart, die Massen anzieht. Viele haben es schon einmal gespielt, viele interessieren sich dafür, viele sind Fans eines bestimmten (Profi-)Vereins, viele freuen sich und leiden mit ihrem Verein mit. Interessanterweise pflegt aber jeder eine ihm eigene Sicht auf die Dinge. Das allein wäre noch keine Nachricht wert, doch beim HSV, meinem Herzensverein (ja, immer noch), erleben wir Extreme – wohlgemerkt: innerhalb der Fans desselben Vereins. Von „alles komplett Mist“ bis „alles ist (jetzt) fein“ ist alles zu haben, allerdings nicht wie in einer Gaußschen Glocke verteilt, sondern eher in der inversen Form: viele Extreme und wenig in der Mitte. Mich interessiert: Warum ist das so? Dazu habe ich Alex, aka Trapper „Doc“ Seitenberg, seines Zeichens Blogger und pyschologisch vorgebildeter Fußball-Kenner, um Antworten auf meine Fragen gebeten:
Fußball ist ein einfaches Spiel, wird jedoch von Fans sehr unterschiedlich bewertet. Wie erklärt es sich aus Deiner Sicht, dass die Wahrnehmung des Spiels und dessen, was drumherum passiert, so extrem unterschiedlich ist?
Schon über die Behauptung, Fußball sei ein einfaches Spiel, ließe sich trefflich streiten. Ob man dieser These zustimmt, dürfte von der jeweiligen Perspektive abhängen. Sicherlich kann man das Spiel auf das Notwendigste reduzieren. Zwei Teams aus je elf Spielern versuchen, während 90 (2×45) Minuten Spielzeit mehr Tore zu erzielen, als ihr Gegner. Das ist einfach, und das kapiert jedes Kind. Doch je intensiver man sich mit dem Sport beschäftigt, desto komplizierter wird er. Deutschland hat 80 Millionen Bundestrainer. Ich schätze, dass davon mindestens 60 Millionen noch nicht einmal wirklich die Regeln beherrschen. Und daraus ergibt sich auch schon die Antwort: Wer zwar weiß, das der Ball ins gegnerische Tor und nicht ins eigene muss, ansonsten aber zum Beispiel nicht versteht, wie eine Viererkette in der Abwehr funktioniert, bewertet natürlich den Spielverlauf und die Leistung einzelner Spieler u.U. völlig anders als eine(r), der/die um Zusammenhänge und Abhängigkeiten im Zusammenspiel der Mannschaftsteile weiß. Neben solchen Kenntnissen kommen weitere Aspekte hinzu, etwa die Erwartungen, die aus der Berichterstattung in den Medien resultieren. Außerdem wären die Eintrittspreise zu erwähnen – man könnte es eine „Preis-Leistungs-Erwartung“ nennen. Hinzu kommt: Das Stadion mit seinen Nebenräumen in der virtuellen Welt, also den sozialen Medien, ist auch der Ort, wo man ungestraft den Alltagsfrust loswerden darf. Da sagt beziehungsweise schreibt man dann eben schnell: Spieler X oder Trainer Y ist ’ne totale Pfeife – ob der das tatsächlich ist, muss man ja nicht beweisen.
Beim Thema HSVplus war es aus meiner Sicht nachvollziehbar, dass sich sehr unterschiedliche Lager bildeten. Was könnte aus Deiner Sicht der Grund dafür sein, dass sich nun wieder Gruppen gegenüberstehen, deren Ansichten konträr sind?
Ich glaube, dass der Streit um die Ausgliederung tiefe Gräben gerissen hat, die bisher nicht eingeebnet wurden. Das war ja ein fundamentaler Richtungsstreit. Insofern überrascht mich das nicht. Den einen mag die Gelegenheit günstig erscheinen, um nun darauf hinzuweisen, wie berechtigt ihre damalige Ablehnung der Ausgliederung gewesen sei. Andere haben sich vielleicht schnellere und vor allem sichtbare Veränderungen erhofft und sind nun enttäuscht. Wieder andere haben genau die Entwicklung erwartet, die sie jetzt auszumachen meinen, und sind eben zufrieden. Die Erwartungshaltung beeinflusst die Bewertung ganz erheblich.
Vor allem in den sozialen Medien entsteht der Eindruck, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, sich zum HSV zu verhalten – nämlich positiv oder negativ. Ist das bei Fußball tatsächlich so, oder ist das nur ein kleiner Ausschnitt aus der Gruppe der Fans?
Ich denke, dass der damalige Streit nachwirkt und eben auf die Bewertung der aktuellen Lage abstrahlt. Aber vergessen wir dabei mal nicht: Fans sind leidenschaftlich. Das liegt in der Natur der Sache. Und im Fußball darf man, wie ich eben bereits andeutete, gesellschaftlich akzeptiert „die Sau rauslassen“. Dass Fans emotional und eben nicht ausgewogen-objektiv streiten, ist nichts wirklich Neues, Dramatisches.
Der Diskurs in den sozialen Medien ist allerdings etwas, das in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden ist. Jeder kann mit einem Tastendruck seine Meinung in die Welt posaunen und findet garantiert, egal wie abseitig diese Meinung auch sein mag, Gleichgesinnte oder wenigstens erbitterten Widerspruch. Letzteres ist ja auch schon eine Form der Aufwertung, wenn sich sonst niemand für einen interessiert.
Werden wir konkret und beleuchten das Beispiel Peter Knäbel: Seine bisherige Arbeit beim HSV wird teilweise sehr kontrovers diskutiert. Warum kommen Fans auch hier zu völlig unterschiedlichen Bewertungen?
Wie man Knäbels Arbeit bewertet, dürfte ebenso von zahlreichen Faktoren abhängen. Allgemein gesprochen dürfte die Beurteilung einer Person auch von Sympathie/Antipathie mindestens beeinflusst werden. Als einigermaßen gesichert dürfen wir annehmen, dass sein Einstand beim HSV eher suboptimal und unglücklich verlaufen ist. Zum einen hat und hatte er als Sportdirektor wie seine Vorgänger im Amt wenig Geld zur Verfügung, um den Kader umzubauen. Dann kamen noch die erfolglose Interimstrainer-Zeit plus seine damaligen negativen öffentlichen Äußerungen zu einzelnen Spielern und schließlich das „Rucksackgate“ hinzu. Da passt aktuell das „E-Mail-Gate“ für einige gut ins Bild (der negativen Erwartung), und das wurde ja auch medial ordentlich bedient. Sicher kann man diese genannten Punkte kritisch sehen, sollte aber dennoch beachten, dass weder beim „Rucksackgate“ noch beim „E-Mail-Gate“ bisher die Schuldfrage eindeutig geklärt ist. Auch wenn man (irrtümlich) meinte, man sei sich im Grunde einig (HSV wollte den Spieler, der Spieler wollte zum HSV, der abgebende Verein war prinzipiell bereit, ihn abzugeben), ist selbst diese Abweichung vom normalen Procedere eventuell nachvollziehbar. Ich möchte davor warnen, allein auf der Grundlage einer medialen Berichterstattung hin zu urteilen. Fußball-Leaks hat gerade erst Nebenabsprachen bei Transfers veröffentlicht [SPIEGEL vom 06.02.2016, d. Aut.], die vorher der Öffentlichkeit gänzlich unbekannt waren. Nicht alles verhält sich am Ende so, wie es eine zunehmend reißerische Berichterstattung suggeriert. Denkbar wäre ja auch, dass da jemand ein Interesse am Scheitern des Transfers hatte.
Als Sportdirektor ist eine seiner Kernaufgaben (in Abstimmung mit dem Trainer) die Kaderplanung. Hier finde ich, dass er bisher deutlich mehr richtig als falsch gemacht hat.
Das sehe ich durchaus anders, was zeigt: Schon an uns sieht man die Unterschiedlichkeit der Bewertungen. Warum ist das so?
Weil wir unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und unterschiedliche Persönlichkeiten sind. Vielleicht ist auch unser Informationsstand unterschiedlich. Da wir seine Transfers jeweils anders bewerten, kommen wir auch zu einem anderen Urteil Knäbel betreffend.
Auch beim Vorstandschef Beiersdorfer, der von „angeschobenen Prozessen“ und „Geduld haben“ spricht, scheiden sich die Geister. Ist es nur eine Frage der Erwartungen, oder steckt mehr dahinter? Gibt es aus Deiner Sicht sachliche Kriterien, an denen ein Vorstandsvorsitzender eines 130 Mio-Euro-Unternehmens gemessen werden kann?
Ich würde mir einen CEO wünschen, der nicht so stark von seiner HSV-Vergangenheit und seinem sympathischen Auftreten zehrt, sondern der Visionen entwickelt und die dann auch rhetorisch überzeugend kommuniziert. Beiersdorfer reißt nicht mit, sondern schläfert ein. Und gelegentlich bin ich von seiner Naivität geradezu erschüttert. Aber: Beiersdorfer scheint mir innerhalb des HSV gut vernetzt zu sein, insbesondere mit den Meinungsführern des Vereinsestablishments. Ein Knäbel, ein Peters als Quittche können in diesem Club nur deswegen „überleben“, weil sie Teil des Pakets „Didi kann über das Wasser wandeln“ sind. Allein wären sie m.E. längst abgeschossen worden. Denn eins ist doch klar: Wer viel verändern will, macht sich schnell viele Feinde. Oder „systemisch“ gesprochen: Ein System in der Krise (wie der HSV der vergangenen Jahre) stabilisiert sich nach innen, indem es angebliche Störenfriede rausdrängt. Und das fällt noch leichter, wenn man den einen als Hockey-Heini und den anderen als (Ex-)St. Paulianer und somit als nicht zugehörig leicht denunzieren kann. Was tatsächlich hinter den Kulissen angeschoben wird, das wissen doch nur Eingeweihte. Von außen, durch uns Fans, wird sich das erst in zwei, drei, vier Jahren bewerten lassen.
Ein Problem bei der Wahrnehmung und Bewertung scheint mir auch zu sein, dass über Jahre inflationär von Umbruch geredet wurde, der dann aus diversen Gründen aber nicht erfolgte. Daher verstehe ich durchaus, dass viele es einfach satt haben und leid sind, dass deren Geduld erschöpft ist und sie jetzt (schon) Resultate sehen wollen. Man darf auch nicht unterschätzen, dass die vergangenen Jahre für Fans in vielerlei Hinsicht (nicht nur die Relegation) eine enorme emotionale Anstrengung gewesen ist. Wer will als Fan schon Ränkespiele in den Gremien, Pleiten, Pech und Pannen seines Vereins über Jahre (!) fast täglich medial vermittelt „erleben“? Genau: Keiner.
Es gibt ja nun durchaus Informationsquellen, die ein wenig schmeichelhaftes Bild vom HSV im allgemeinen und von seinen Protagonisten im speziellen zeichnen. Täuscht mich der Eindruck, dass dies als Pesterei abgetan wird, weil a) eine Rolle spielt, wer es sagt, und b) es nicht in die eigene Gedankenwelt passt?
Natürlich spielt das eine Rolle! Wenn ich jemanden, aus welchen Gründen auch immer, für nicht vertrauenswürdig halte, dann ignoriere ich möglicherweise seine Äußerungen selbst dann, wenn er/sie etwas (aus meiner Sicht) Richtiges sagt. Als Hintergrund könnte man hier einen Lernprozess annehmen. Wie in der Fabel vom Hirtenjungen, der täglich ins Dorf läuft und um Hilfe im Kampf gegen den bösen Wolf bittet. Jedes Mal eilen die Dörfler zur Hilfe, jedes Mal ist es ein Fehlalarm. Als der Wolf dann wirklich kommt, reagiert kein Dorfbewohner mehr. Hier würde ich eher danach fragen, wie es jemand fertiggebracht hat, seinen Ruf derart zu ruinieren.
Auf der anderen Seite: Wenn Fans nur noch Positives sehen oder es für sich so deklarieren, könnte man das als Akt einer Art „emotionalen Notwehr“ oder Abwehrreaktion verstehen, da man anders das gefühlt fortdauernde Elend nicht mehr bewältigt. Damit wären wir beim Thema „Coping“. Menschen haben unterschiedliche Bewältigungsstrategien. Dem einen hilft es, wenn er schon vor dem Spiel zu wissen meint, dass das wieder in die Hose geht. Indem er die Erwartungen runterschraubt, senkt er auch das Risiko heftiger Enttäuschungen. Der andere betrachtet auch die größte Katastrophe als „Chance“, um sich nicht völlig deprimieren zu lassen.
Ein letztes Beispiel sind die Zahlen: Nach 100 Mio Euro Verbindlichkeiten in 2014 ist der HSV jetzt bei 90 Mio Euro angekommen. In den Medien wurde Wettstein mit der Zahl 56 Mio Euro zitiert, die er aber gegenüber „finance“ nur als „reine verzinsliche Finanzschulden“ bezeichnet. Den Medien ist das kaum eine Notiz wert, obwohl Wettstein auf der Mitgliederversammlung den Mitgliedern offenbar nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Woran liegt das Deiner Meinung nach?
Die Verbindlichkeiten belaufen sich meines Wissens auf 90 Mio, die Schulden auf über 50 Mio. Die Medien trennen hier nicht unbedingt sauber. Schulden versteht der Leser, die hat er im Zweifel selbst. Verbindlichkeiten sind aber etwas anderes. Im Grunde ist es wie bei der Berichterstattung über Tötungsdelikte. Der Boulevard schreibt fast ausnahmslos von „Mord“, auch wenn, juristisch betrachtet, tatsächlich ein Totschlag vorlag. Aber „Mord“ ist so schön gruselig und emotionalisiert den potenziellen Käufer. Dass kaum ein Medium auf den von Dir geschilderten Umstand abhebt, liegt m.E. daran, dass die Masse eben nicht die ZEIT, die FAZ o.ä. liest, sondern Bild, Mopo, Abendblatt usw. „Schulden“ ist plakativ, „Verbindlichkeiten“ – das ist ein Terminus.
Der HSV liefert aus Sicht des Boulevards Geschichten, für die sich viele Menschen interessieren. Und damit ihr Interesse die Schwelle zur Kaufentscheidung überschreitet, emotionalisiert man die Meldung durch das entsprechende Vokabular. Eine Meinungsverschiedenheit wird dann schnell zum Eklat oder Skandal. Schrieben sie: Spieler X und Y bewerten die Gründe für das Ergebnis im Spiel gänzlich anders – kaum einer würde das lesen, kaufen wollen. Skandal – da wird man sofort neugierig.
Die Meinungen zu diesen Beispielen sowie zum HSV allgemein sind so gegensätzlich. Wie kann ein Ausweg aussehen? Wie kann es gelingen, dass sich diese Seiten gegenüberstehen, ohne voneinander nur negativ zu denken?
Ich denke, zwei Dinge wären hierfür wichtig: Zum einen Zeit, denn Zeit heilt zwar nicht alle Wunden, mildert aber den aus ihnen resultierenden Schmerz. Und zum anderen sportlicher Erfolg – der hat bekanntlich dann immer ganz, ganz viele Väter beziehungsweise Mütter…
Für die angesprochene Art der medialen Aufbereitung, auf der auch ein Teil der Meinungsbildung bei den Fans fußt, gibt es auch andere Gründe, auf die wir kaum Einfluss haben. Wer beispielsweise wie das Fernsehen schon fast obszöne Summen für die Berichterstattung zum Fußball auf den Tisch legen muss, der darf natürlich das „Produkt Fußball“ hinterher nicht schlechtreden. Insofern liegen hier weitere Ursachen für eine fortschreitend sensationsheischende, im Zweifel systemstabilisierende Berichterstattung. Eine fundiert-kritische Betrachtungsweise darfst Du aus den genannten Gründen kaum erwarten.
Lieber Alex, Dankeschön für das Gespräch.